Alles, was in dieser Welt eine Rolle spielen will oder soll, braucht eine Struktur. Muss eine Struktur annehmen. Eine erkennbare, eine fassbare, eine brauchbare Struktur.
Unser Körper hat diese Struktur. Wer sich davon überzeugen will, der begebe sich in das Studium der Medizin. Dieses Wissen über Strukturen und Funktionen des menschlichen Körpers ist heute fast zu einem Allgemeingut geworden. Viele Laien glauben, kompetent mitreden zu können.
Dabei ist dieses Wissen noch gar nicht so sehr alt. Andreas Vesalius gilt als der erste systematische Anatom des Abendlandes. Er lebte im 16. Jahrhundert.
Unser Körper ist also mit seinen Strukturen und Funktionen weitgehend bekannt, diagnostizierbar und behandelbar.
Das Wissen über unser Seelenleben in dessen, das steht nicht wirklich brauchbar zur Verfügung, alltagstauglich brauchbar zur Verfügung. Es fehlt ein allgemeingültiger Überblick und Durchblick.
Es ist nicht so, als hätten wir überhaupt kein Wissen über unser Seelenleben. Es gibt sogar eine Menge Detailwissen. Wir wissen beispielsweise, in welcher die Hirnregion was gedacht und gefühlt wird, wir wissen, wie das Denken transportiert wird und wie man es beeinflussen kann und vieles mehr
Alles dieses Wissen kommt aus der Erforschung der Körperfunktionen. Dagegen habe ich nichts einzuwenden. Das ist sicher für die Gesamtbeurteilung aller seelischen Funktionen nicht nur wichtig, sondern sogar hilfreich.
Allein eine praktisch brauchbare und für jedermann verständliche Gesamtsicht des menschlichen Seelenlebens die fehlt.
Ob mir nun das alle glauben oder nicht, diese Gesamtsicht des Seelenlebens beruht auf langfristigen Verhaltensbeobachtungen.
Im Zeitalter der apparativen Diagnostik gibt es die immer noch. Eine langfristige und immer von neuem auf ihre Richtigkeit überprüfte Verhaltensbeobachtung, die zu einer Gesamtsicht führt, zu einer Weltkarte des Seelenlebens.
Das Besondere an diesen Beobachtungen ist, dass sie jeder an sich selbst nachvollziehen kann und sie damit auf ihre Richtigkeit und Brauchbarkeit überprüfen kann. Und nachdem er an sich selbst erlebt hat, dass sie richtig ist und brauchbar, sie auch gleich in seinem Alltag nutzt bringend zum Einsatz bringen kann.
Die Ergebnisse der Erforschung des Seelenlebens, die sich aus der Körperforschung ergeben, sind für mich kein Gegensatz, sondern eine Ergänzung. Bei schwereren psychopathologischen Verhaltensstörungen bin auch ich froh über die Neuentwicklungen der Psychopharmakologie und hole auch die, wenn es nötig ist, zu Hilfe.
Die Medizin ist groß.
Meine auf Verhaltensbeobachtungen beruhenden Erkenntnisse über Struktur und Funktion des Seelenlebens erweisen sich ebenso wie alle übrigen Forschungen über das Seelenleben als unentbehrlich, weil sie für jedermann einsehbar und daher im Alltag unmittelbar einsetzbar sind.
Meine Beobachtungen sind keine Pionierleistungen, sie haben ein Vorbild.
Ein Gesamtbild und damit eine Gesamtvorstellung von einer Struktur und Funktion des menschlichen Seelenlebens, die schwebte schon Sigmund Freud vor. Der war ein Pionier der Erforschung des menschlichen Seelenlebens. Sein Dreierbild vom Seelenleben, bestehend aus Ich, aus Es und aus Über-Ich, war lange für mich Leitbild meiner Arbeit mit dem menschlichen Seelenleben. Ganz allmählich nur in langen Behandlungsjahren und unermüdlichem Beobachten und Überprüfen dieser Beobachtungen kam ich zu der Erkenntnis, dass dieses Dreierbild der Menschenseele der Realität der Menschenseele nicht umfassend dienlich ist. Es stimmte einfach nicht. Schritt für Schritt ging ich vor und gelangte dabei zu einem besseren, nämlich zu einem, das ganz weitgehend stimmig ist. Das von mir bis auf den heutigen Tag immer von neuem auf seine Richtigkeit überprüft wird.
Dabei kam ich auf den Gedanken, jeden interessierten Patienten einzuladen, dieses Dreierbild in sich selbst auf seine Richtigkeit zu überprüfen.
Erst, nachdem nahezu alle diese Überprüfungen ebenfalls die Stimmigkeit und praktische Brauchbarkeit im Alltag bestätigt hatten, und diese Patienten dankbar nach Hause gingen, also erst, nachdem ich dies erfahren durfte, wende ich mich mit meinem Dreierbild von der menschlichen Seele an weitere Menschen. Dies in der Hoffnung, dass dieses Menschenbild weiteren Menschen einen guten Dienst tut.
Das Menschenbild, das ich gefunden habe, ist ebenfalls ein Dreierbild. Es beinhaltet
erstens: das Ich als den Hausherren und verantwortlichen Führer,
zweitens: die Gefühle als Wegweiser und als die Lieferanten der Kraft allen Lebens,
drittens: den Verstand als den Lieferanten und Überwacher aller Realbezüge.
Meines Wissens ist nach Siegmund Freud niemand mehr erschienen der sein Dreierbild vom menschlichen Seelenleben infrage gestellt hätte. Carl Gustav Jung hat die Inhalte des Freudschen Es segensreich erweitert. Aber auch die Beachtung dieses Seelenbildes ist in den Folgejahren nach meinem Eindruck mehr und mehr in den Hintergrund geraten. Woran das liegt, darüber kann ich nur spekulieren. Möglich, dass keinem der in der Folgezeit auftauchenden Seelenführer an einer Gesamtlandkarte über das menschliche Seelenleben gelegen war. Vielleicht unbewusst. Vielen dieser Seelenführer ging es um neuartige Psychotherapieansätze, also um neue Heilswege, um neue Therapiemethoden. Nicht aber um eine Gesamtschau des Seelenlebens. Viele dieser neuen Therapiemethoden sind durchaus wirksam, auch zielführend. Ich habe für alle ein offenes Ohr. Ich darf aber bemerken, dass keine von diesen Therapiemethoden ein Allheilmittel darstellt. Je nach Problemlage (Krankheitsursache und Krankheitsgeschehen) ist diese oder jene von allen diesen Therapie wegen mehr oder weniger zielführend, also heilsam.
Die Unterschiede in der Anwendbarkeit aller dieser Heilswege beruhen nach meiner Information und Erfahrung auf Therapievorstellungen oder/und auf persönlichen Heilserfahrungen der jeweiligen Seelenführer. Beispiel: Viktor E.Frankl.
Als Überbringer dieser Erfahrung oder/und Überzeugung treten viele dieser Seelenführer sehr gewinnend auf. In den Augen therapiebedürftiger Laien und auch mancher Psychotherapeuten als Alleskönner. Ich will nicht behaupten, dass die alle das wirklich so wollen. Begeisterung in der Darstellung einer Methode ist nicht prinzipiell verwerflich. Begeisterung ist aber – wie jedes Hochgefühl – auch ansteckend. Und je nach Bedarfs- und Problemlage dann auch verführerisch.
Ich bin weit davon entfernt, als Alleskönner im Ozean der Psychotherapie aufzutreten. Mir geht es lediglich um eine diagnostische Orientierung. Um die Lokalisation eines Denkens. Darum, klar zu sehen, unter welcher Führung sich das Denken eines Menschen bewegt und ganz überwiegend aufhält. Ob unter der Führung seines Ich, ob unter der Führung seiner Gefühle – welche Gefühle? –, ob unter der Führung der Stimmen seines Verstandes. Nun befinden sich diese drei aber meistens in einer Art von Zusammenarbeit. Entscheidend für die Diagnose seines Denkens aber ist, unter welcher Führung von den dreien sich sein Denken überwiegend bewegt. Also welches Denken seine Taten und sein Verhalten bestimmt. Von dieser Diagnose hängt das therapeutische Vorgehen wesentlich ab. Der Gewinn meines „Dreiergestirns“ ist die Denkdiagnose.
Mein Anliegen im Umgang mit der gesamten Medizin war es schon immer einen Überblick zu bekommen über das Große und Ganze und damit zu einem Gesamtverständnis für die Medizin zu gelangen. Eigentlich für alles Leben. Das war schon in meinen Jahren in der Pharmakologie so, das war in meinen Jahren in der Inneren Medizin so, und das ist seit Beginn meiner Jahre im Umgang mit dem menschlichen Seelenleben so. Einen „Weltatlas“ des menschlichen Seelenlebens wollte ich finden. Eine Seelenlandkarte, in der sich jeder Mensch wieder findet, in der sich jeder verstanden fühlt. Das war und ist mein großes Anliegen.
Alles tun, alles Verhalten, beruht auf dem Denken eines Menschen, das dahinter steht.
Jede Psychotherapiemethode, jeder neue psychotherapeutische „Ansatz“, der ein krankes Denken in ein gesundes Denken zu überführen vermag, ist mir willkommen.
Der Hauptgewinn meines Seelenbildes liegt in der Seelendiagnose.
Es gibt auch einen Nebengewinn, der gar nicht so selten vorkommt.
Mir sind Menschen begegnet die bei der Entgegennahme ihrer Seelendiagnose dieser nicht nur spontan zugestimmt haben, sondern wenig später hinzugefügt haben: „ o. k., jetzt weiß ich, was ich zu tun habe“.
Ich betone ausdrücklich, dass ich Seelendiagnosen nach relativ kurzer Zeit formulieren kann, dass aber nicht ich es bin, der auf ihrer Richtigkeit besteht, sondern immer abwarte, was der Betroffene zu seiner Diagnose sagt. Wenn er spontan zustimmt, dann stimmt sie. Und dann kann man mit guten Erfolgsaussichten die therapeutische Arbeit beginnen.
Ich behaupte nicht, dass der Erfolg damit garantiert ist. Die Menschen sind so unterschiedlich. Nicht nur in ihrer Gesundheit, sondern auch in ihrer Krankheit.
Ich bin bei der Niederschrift dieser Zeilen auf den Gedanken gekommen, eine Seelenschule anzubieten. Letzten Endes handelt es sich dabei um eine Denkschule.
Das Denken ist zwar strukturlos, aber nicht orientierungslos. Das Denken nimmt Struktur an in der Tat.
Das Seelenleben hat eine Struktur. An seinen Taten ist die zu erkennen. Man muss nur lange genug die Taten – das Verhalten – eines Menschen beobachten. Jedes Tun bewegt sich in einem mehr oder weniger weiten Kreis von Wiederholungen. Dadurch wird das Denken greifbar. Und veränderbar. Wenn der Betroffene dabei mitmacht.
Ich will nicht sagen, dass alle Tiefen des Seelenlebens vollkommen ergründbar sind. Nichts in der Natur ist vollkommen ergründbar. Das vollkommene Verstehen ist uns Menschen nicht gegeben. Weder in der Physik noch im Geistesleben.
Wir sollen das tun, was zu tun ist. Eine große Auswahl steht uns scheinbar nicht zu Verfügung. Wir haben die Wahl, das Nötige zu tun oder es nicht zu tun.
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