Das Andersdenken ist ein großes Wagnis. Der Mut, der dazugehört, ist ein sehr großer. Denn eine Garantie, dass das andere Denken ein besseres ist, die gibt es vorher nicht. Die muss sich erst im Laufe des anderen Denkens in der Wirklichkeit erweisen.
Unser Denken ist nicht so fertig und so vollkommen zuverlässig, wie es manchem von uns in seinem gegenwärtigen Leben erscheint. Unser Denken wurde nicht jedem von uns von der Natur einfach zugeteilt. Jedem dasselbe. Nein, unser Denken hat sich entwickelt. Es war von Anfang an als lebendige strukturlose Beweglichkeit unseres Geisteslebens vorhanden. Das aber, was an Strukturiertheit und Funktionalität daraus geworden ist, dass also, was wir jetzt als Denken erkennen und erleben, das hat sich entwickelt.
Entwickelt aus besonderen allgemeinen und persönlichen Verhältnissen, die das Menschenkind bei seiner Geburt und – wie wir inzwischen wissen – auch schon vor seiner Geburt im Bauch der Mutter angetroffen hat.
Der Eintritt des Menschen Kindes in dieses Leben ist von einer außerordentlichen Hilflosigkeit begleitet. Einer Hilflosigkeit, die kompletter ist, ungeschützter und länger anhaltend als die aller anderer Lebewesen. Ich nehme an, dass das Menschenkind diese seine anfangs Situation zumindest streckenweise als eine Notlage von hoher Intensität erlebt hat. Also mit außerordentlich großen Existenzängsten. Je nachdem, was ihm in dieser Zeit widerfahren ist.
Das Denken des Menschenkindes hat sich in dieser Lebenszeit entwickelt.
Ich nenne diese Lebenszeit die frühe Lebensschule.
Die frühe Lebensschule besteht aus frühen Lehrern (Eltern, Geschwister, weiteren zum Teil sehr unterschiedlichen Menschen) und aus ersten Selbstversuchen und den daraus gewonnenen Selbsterfahrungen. Und dieses ganze Geschehen in sehr persönlichen Verhältnissen und sehr speziellen Problemstellungen.
Jede frühe Lebensschule bietet ein anderes Lehrerpersonal und eine andere Umgebung.
Jede Lebensschule bringt also für das betroffene Menschenkind entsprechend dem angebotenen – und dem nicht angebotenen – Lernstoff und der vorhandenen Umgebung ein ganz persönliches Denken hervor, das dann zur Grundlage wird für ein ganz persönliches Können.
Das Können ist es, das von der großen Hilflosigkeit erlöst.
Dass das Denken, das zu diesem Können geführt hat, fortan mit der allergrößten Wachsamkeit behütet und beschützt wird, das leuchtet bei diesen Ausmaßen an anfänglicher Hilflosigkeit, glaube ich, jedem ein.
Je abgrundtiefer die anfängliche Hilflosigkeit erlebt wurde, desto kompromissloser das Festhalten an dem Denken, dass aus dieser Hilflosigkeit erlöst hat. Die Angst des Rückfalls in diese Hilflosigkeit ist es, die jede Einsicht in ein anderes Denken, die jede Verheißung eines besseren Denkens und damit Könnens, die jedes andere Denken mit aller Entschiedenheit, sogar mit der Androhung von Feindseligkeiten zurückweist.
Jede frühe Lebensschule ist eine besondere, besonders durch ihre Lehrer, besonders durch ihre Problemlage.
Jeder Absolvent der frühen Lebensschule verfügt also über ein persönliches Denken im Umgang mit den Problemen des Lebens. Er tritt ins Leben einen – in die Schule, in den Beruf, in den Umgang mit sich und der Welt – mit der Überzeugung, alle diese Probleme nun lösen zu können und nie mehr der Hilflosigkeit von ehemals wieder zu begegnen.
Das kann eine ganze Weile gut gehen . . ., eines Tages aber taucht bei jedem ein Problem auf, dass er so noch gar nicht kannte.
Wenn er nun das Glück hat, dass in dieses neue Problem gar nicht persönlich betrifft, dann kann er ihm mit Nichtbeachtung begegnen. Nicht alle Probleme, die ihm begegnen, sollte der Mensch in Arbeit nehmen. Der würde sich heillos übernehmen. Der Mensch sollte auf seinem Lebensweg alle ankommenden Probleme als erstes gründlich daraufhin untersuchen, ob sie ihn überhaupt was angehen.
Handelt es sich aber nun tatsächlich um ein neues Problem, das ihn persönlich in seiner Lebensführung betrifft, dann kann es ihm passieren, dass ihn das Gefühl des Nichtkönnens und der Hilflosigkeit, dem er nie wieder begegnen wollte, in seiner ganzen altbekannten Angst und Wucht wieder erfasst. Und das diesmal ohne Beistand und ohne Hilfe. Ganz allein.
Dies ist die Situation, in der altbewährte Denkwege aus der frühen Lebensschule nichts mehr taugen. Dies ist die Situation, in der es darum geht, nach neuen nach anderen Denkwegen Ausschau zu halten.
Um dies in dieser Notlage überhaupt zu schaffen, braucht der Mensch einen guten Schutzengel. Der ihm ein Bewusstsein vermittelt für sein eigenes Denken. Dass dies nämlich nicht naturgegeben ist und dementsprechend allumfassend, sondern lediglich ein Entwicklungsprodukt darstellt, dass dies das Endergebnis ist seiner frühen Lebensschule. Dass also sein Denken kein unveränderbares Schicksal ist, sondern einfach eine Fähigkeit, die erweiterbar ist und auch veränderbar. Und das entsprechend der neuen Problemlage. Die gegenwärtig zwar noch unlösbar, also sehr bedrohlich, erscheint. Die aber durch den Erwerb eines neuen Denkens und damit auch eines neuen Könnens in absehbarer Zeit zu lösen ist.
Erst mit diesem Bewusstsein um mit dieser neuen Einsicht ist der Weg zu einem neuen Denken und damit zu einem neuen können offen. Ein offener Weg bedeutet nicht, dass der, für den er nun endlich offen ist, ihn auch geht. Der ist verbunden mit einer Tätigkeit, und die heißt lernen. Lernen ist leicht ausgesprochen, aber ganz und gar nicht immer leicht getan.
Dabei fällt mir ein drittes ein, dass der Mensch braucht, außerdem Bewusstsein für sein Denken und der Einsicht über sein Denken, um den Weg des Lernens überhaupt zu gehen, und dieses dritte ist der Glaube an den Erfolg dieses Lernweges.
Der Glaube an die Wirksamkeit eines neuen Denkens und Könnens, also an die Lösbarkeit des vorliegenden neuen Problems.
Manchen Menschen fehlt dafür einfach die Vorstellung. Wieso also eine Mühsal auf sich nehmen, die dann doch nichts nützt.
Viele Menschen scheinen mir beim Auftauchen eines bisher unbekannten Problems in einem derart bodenlosen Abgrund von Angst zu versinken, dass Bewusstsein und Einsichten über den Status ihres gegenwärtigen Denkens und dazu noch über einen höchst beschwerlichen Weg zu einem neuen Denken mit einem neuen Können, dass solche Einsichten und Gedanken ganz außerhalb ihrer Sichtweite im Nichts verschwinden.
Solche Menschen suchen ihr Heil nur noch in der Flucht vor neuen Problemen. Sie leben in der Problemabwehr.
Deshalb gibt es so wenige Arbeitgeber und zu viele Arbeitnehmer.
Die Fähigkeit, Bereitschaft und Willigkeit zum Andersdenken ist selten.
Zum Unternehmertum gehört an erster Stelle Mut, – zur Selbstständigkeit, – zum Forschen.
Aus lauter Angst vor dem Nichtkönnen bleiben die Menschen auf den vertrauten Denkwegen ihrer frühen Lebensschule. Oft ohne es zu merken.
Genau aus diesem Grunde ist die Verständigung unter den Menschen so schwierig.
Keine frühe Lebensschule ist wie die andere. Verständigung braucht immer von beiden Seiten eine gehörige Portion Mut zu einem neuen Denken.
Viele halten ihr Denken für eine Gegebenheit der Natur. Unveränderlich.
Andersdenkende werden dementsprechend als dumm oder als abwegig angesehen.
Es gibt die organische Dummheit. In ihren leichteren Formen ist die aber nicht leicht zu diagnostizieren.
Es gibt auch Begabungslücken – diese in den unterschiedlichsten Themen – bei einem ansonsten voll funktionierenden Gesamtverständnis.
Beim Auftauchen eines bislang unbekannten Problems ist die dabei aufkommende Angst nicht nur
erstens: die des gegenwärtigen Nicht-Lösen-Könnens
sondern auch
zweitens: die der tatsächlichen Unlösbarkeit dieses Problems.
Wir dürfen nicht so tun, als gäbe es nur lösbare Probleme, als fehlte es nur jeweils an einem entsprechenden Denken und Können.
In den unlösbaren Problemen werden die Grenzen unseres Daseins sichtbar. Das Schicksal mit seinen Fügungen und mit seinen Zumutungen.
So brauchen wir für jedes Problem, das uns unlösbar erscheint,
erstens: den Glauben, dass wir fähig sind, es zu einem neuen Denken zu bringen und zu einem neuen Können, das uns ermöglicht, dieses Problem zu lösen, und
zweitens: die Zuversicht, dass unser Schicksal bei unlösbaren Problemen es besser mit uns meint, als wir denken.
Zu unserem Leben brauchen wir, um es überhaupt zu meistern, im Hintergrund eine unerschütterliche persönliche Zuversicht.
Das Schicksal hat Gesandte. Die nenne ich jetzt mal Engel. Es gibt die Engel des Lebens und die Engel des Todes.
Die Natur hat uns die Fähigkeit gegeben, sie, die Natur, zu erforschen. Diese Fähigkeit sollten wir annehmen und tun. Die Einsichten, die die Natur ihren Erforschern gewährt, sind in ihrem Innersten namenlos und unaussprechlich.
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